Leseprobe II: „Wegschauen”
Verantwortungsdefizite der Meinungsmacher
Die (alles andere ausblendende) Fokussierung beim "Wegschauen" auf den Bereich Holocaust und "rechte Gewalt", führt zu einer verhängnisvollen Verdrängung gegenwärtigen Leidens. Die "öffentliche Meinung" ist so sehr mit der Entrüstung und der Klage über das Wegschauen im Holocaust beschäftigt, dass wir unsere jetzige Verantwortung gegenüber der Not in vielen Teilen der Welt zu sehr aus den Augen verlieren. Prof. Novick erinnert an diesen verheerenden und schrecklichen Sachverhalt in eindringlichen Worten: "Ein besonders bewegender Inbegriff der Gräueltaten, die stattfanden, während andere zuschauten, ist der Mord an mehr als einer Million Kindern - die immer und überall die unschuldigsten und hilflosesten Opfer sind - im Holocaust. Wie kann jemand dem gleichgültig gegenüber gestanden haben?

Aber: Heutzutage sterben jedes Jahr mindestens zehnmal so viele Kinder auf der Welt an Unterernährung und vermeidbaren Krankheiten. Kein einzelner Übeltäter - ein Hitler oder ein Pol Pot - hat sie zum Tod bestimmt. Ihre Tode sind nicht das Ergebnis eines satanischen, genozidalen Impulses, nicht einmal das Resultat von Hass. Die Kinder sterben aus dem banalen Grund, dass ihnen die Nahrung und die medizinische Minimalversorgung fehlen, die sie am Leben erhalten würde"(Novick, S. 324)

Diese Kinder sterben, weil sie keine einflussreiche Lobby in Politik und Wirtschaft haben; weil sie für unsere Medienlandschaft zu wenig interessant sind. Es ist schon erstaunlich, dass in Presse, Film und Fernsehen das vergangene Holocaustgeschehen einen unverhältnismäßig viel größeren Raum einnimmt, als das gegenwärtige grausame millionenfache Elend von Kindern. Ich bin überzeugt: Wenn wir nur 20-30 Prozent der Energie, der politischen Einflussmöglichkeiten und der medialen Mittel, die für das Gedenken an den Holocaust aufgewendet werden, für die Propagierung von Entwicklungshilfeprojekten einsetzen würden, so könnten jährlich mehrere hundert tausend Menschen gerettet oder in humanere Lebensumstände gebracht werden!

Ich muss erneut darauf bestehen: Leiden ist immer individuell, jeder Mensch hat nur ein Leben. Wenn ein afrikanisches Kind, das wegen Hunger oder vermeidbarer Krankheiten erbärmlich dahinsiecht und dann stirbt, dann ist dieser Tatbestand sicher ähnlich schrecklich und menschlich völlig inakzeptabel, wie bei einem Kind, das durch den Holocaust umkam. Ich meine, wir sollten aus dem Holocaust in vielfältiger Weise unsere Lehren ziehen, aber vornehmlich unsere Verantwortung für die Gegenwart erkennen.

"Zahllose Amerikaner, Juden wie Nichtjuden, haben über diejenigen traurig den Kopf geschüttelt oder aufgebracht die Fäuste geballt, die zuschauten, während Millionen im Holocaust starben. Sie haben beim Schlusswort zu `Schindlers Liste´ - `Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt´ - zustimmend genickt. In Bezug auf die heute sterbenden Kinder kann jeder von uns als Individuum (über OXFAM, UNICEF und andere Institutionen) nicht nur ein Leben retten, sondern viele, nicht nur in einer einmaligen Krise, sondern jedes Jahr. Und hierzu muss man nicht wie im besetzten Europa sein Leben und das anderer aufs Spiel setzen; schlimmstenfalls muss man auf ein wenig Luxus verzichten, den wir entbehren können" (Novick, S. 325).

In diesem Zusammenhang darf ich auf die DEUTSCHE STIFTUNG WELTBEVÖLKERUNG (Göttinger Chaussee 115, D-30459 Hannover) hinweisen. Sie ist meines Erachtens eine sehr empfehlenswerte Hilfseinrichtung, da sie in besonderer Weise auf Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Im Internet kann man sich unter www.dsw-online.de über die Arbeit dieser noch relativ jungen Organisation informieren. (Im Kuratorium dieser Entwicklungshilfeorganisation sitzen integere Leute wie z.B. Prof. Dr. E. U. v. Weizsäcker, Prof. Dr. Klaus Töpfer, Dr. Nafis Sadik oder Prof. Dr. Leisinger). Die DEUTSCHE STIFTUNG WELTBEVÖLKERUNG ist die einzige nicht-staatliche Organisation in Deutschland, die sich besonders auch der Bevölkerungsproblematik annimmt.

Ich hatte im Herbst 2001 die Gelegenheit, mit Mitarbeitern der DEUTSCHEN STIFTUNG WELTBEVÖLKERUNG Entwicklungshilfeprojekte in Indien zu besuchen. Es war erschütternd zu sehen, in welch unbeschreiblicher, menschenunwürdiger Not viele Menschen in Slums ihr Leben fristen müssen. Leprakranke haben zum Teil die offenen Wunden ihrer verstümmelten Gliedmaßen nur mit Lumpen umwickelt. Wer nicht krankenversichert ist (und das sind mehrere hundert Millionen Inder) bekommt bei Krankheit keinerlei ärztliche Betreuung. Man erlebt körperliche Behinderungen (z.B. Nasen-Rachen-Gaumenspalten), die man in Europa in dieser extremen Ausprägung nur aus der Fachliteratur kennt.

Bei uns werden erfreulicherweise ganz selbstverständlich auch bei völlig mittellosen Menschen die Kosten für notwendige Operationen über die Sozialhilfe finanziert. In den Entwicklungsländern hingegen sind diese hilflosen, kranken, behinderten Menschen vollständig ihrem Schicksal überlassen.

Leider haben diese Millionen von völlig unterprivilegierten Menschen keine einflussreiche Lobby. Es gibt auch keine Denkmäler "mit sakralen Elementen" für die unzähligen Menschen, die keine adäquate medizinische Versorgung bekommen und am Wegrand unter höllischen Schmerzen dahinsiechen und dann sterben. Dabei gibt es hoffnungsvolle, überzeugende Entwicklungshilfeprojekte. Hier kann jedoch nur einer sehr begrenzten Anzahl von Menschen geholfen werden, weil es an Kapital fehlt. Im "Haus der Mutter Theresa" in Kalkutta, wo die Schwestern nach meinem Eindruck in bewundernswerter, aufopfernder Weise Menschen im Sterben begleiten, kann aus Kapazitätsgrenzen nur ein kleiner Teil der Bedürftigen betreut werden. Die Öffentlichkeit ignoriert diese Millionen kastenloser, gesellschaftlich ausgestoßener "Unreiner". In Gesprächen mit Fachleuten der Konrad-Adenauer-Stiftung und Vertretern der deutschen Botschaft in New Delhi oder dem deutschen Konsul in Kalkutta, wurde deutlich, dass sehr hoffnungsvolle Projekte aus Kapitalmangel nicht oder nur unzureichend verwirklicht werden können.

Die "Anständigen" und die Meinungsmacher in Europa und Amerika schauen auch häufig weg, wenn Kinder in Afrika verhungern. - Und dies ist der eigentliche Skandal unserer Zeit und der die öffentliche Meinung erzeugenden Verantwortlichen. Während unser Kanzler vorschnell (mit großem Medienaufgebot) zu einem "eingebildeten" Verbrechen nach Sebnitz oder wegen Steinwürfen gegen Sachen nach Weiden reist, macht er um die Slums in Kalkutta oder Nairobi einen weiten Bogen. Während also bei eingebildeten Verbrechen oder Sachbeschädigungen eine enorme Medienwirksamkeit gegeben ist, verhungern Tag für Tag Tausende von Menschen "unspektakulär" irgendwo in der Welt. Diese Millionen unschuldiger Opfer haben in der Main-Stream-Meinung innerhalb der Kategorie "Wegschauen" offensichtlich keinen Platz. Hier schweigen leider jene, die sonst in "Dauerbetroffenheit" verfallen, wenn irgendein Idiot irgendwo ein Hakenkreuz hinschmiert.

Statt ständig über die Schuld der Zuschauer und die Verbrechen des Wegsehens während des Holocaust zu reden und die "Zuschauermentalität" der Menschen in der Hitler-Diktatur zu beklagen, sollten wir daher als "Nachholocaust-Generation" darauf bedacht sein, nicht selbst schuldig zu werden. Unser Wegsehen und unsere Tatenlosigkeit im Hinblick auf das Elend der Welt kommt den damaligen "Verbrechen der Gleichgültigkeit" sehr nahe. Die übergroße Konzentration in der Mainstream-Meinung auf den Holocaust und die Entrüstung darüber, führt (unbeabsichtigt) im Ergebnis zum verhängnisvollen Verdrängen unserer gegenwärtigen Verantwortung. Hier wird ein erhebliches Verantwortungsdefizit der Meinungsmacher und der Einforderer der political correctness sichtbar.

... zum Seitenanfang